Nicht Figur oder Kleider machen den Menschen einzigartig, sondern sein Gesicht und seine Mimik. Deshalb hält Helga Riedel seit über dreißig Jahren Charaktere aus den Alpen als kleine Püppchen fest.
Hans Obermoar bin ich genannt, nimm die Klatschen in die Hand, nimm die Klatschen bei dem Stiel, heut muas geschehen, was ich haben will!
Gebannt verfolgt Helga Riedel wie der Schalknarr seinen Spruch aufsagt, die Bergmänner in ihren dunklen Gewändern die bogenförmigen Reifen zu kunstvollen Figuren schwenken und tanzend aus ihrem Alltag erzählen. Diese Filmszenen über den Hüttenberger Reiftanz lassen die Klagenfurterin nicht mehr los: Das war er, der geschichtsträchtige Ort, nach dem sie suchte. Das waren sie, die knorrigen Charaktere, die sie als Puppen darstellen wollte.
Inhalt
Zuhause bei der Puppenmutter
Bereits vor dreißig Jahren begann Helga mit dem Gestalten von Charakterpuppen. „Damals machte jeder Puppen“, erinnert sich die über 70-Jährige. Auch sie verfiel der finzeligen Handarbeit. Das Kreativ-Künstlerische war irgendwie schon immer ein Teil ihrer Familie. Der Vater studierte sogar Malerei. Doch er hörte auf, weil mit Kunst eben nicht viel Geld zu verdienen war. „Von ihm habe ich Malkasten und Pinsel bekommen“, erzählt Helga, die sich alles selbst beigebracht hat. Angefangen bei der Porträtmalerei über die Ikonenherstellung bis hin zur Puppenmacherei. Die erste Puppe war noch ein Versuch mit Strumpf und Watte. Aufgrund des elastischen Materials wurde der Körper immer dicker und gestaltloser. Helga lernte daraus und setzt seit dem nur Flanell ein. Das hält den Körper in Form.
Helgas Arbeitsstätte ist das Esszimmer mit dem großen Holztisch in der Mitte. Von hier blickt sie auf den alten Schreibtisch auf dem zerstreut halb fertige Kleider, bunte Nähseide, Schere und Klebstoffpistole liegen. In der Vase blühen Wiesenblumen. Zwei große Fenster bringen nicht nur das Rauschen der Blätter in den Raum, sondern auch viel Licht. Das braucht die Puppenmacherin für das Bemalen der Gesichter. Ihre drei Söhne und fünf Enkel dienten schon oft als Modell. „Jetzt entwachsen sie mir, aber sie sind dennoch immer da“, sagt sie und zeigt auf die mit orangen, roten und weißen Mohnblumen bemalte Bauerntruhe. Auf dieser stehen zahlreiche Fotos von ihrer Familie, alle in einem Goldrahmen eingefasst, aufgereiht vor dem Jesuskreuz sowie den Engel- und Marienbildern. Darüber ein selbst gemachtes Ikonenbild aus Ton vom letzten Abendmahl. Nur eine kleine Gruppe von fertigen Puppen ist im Raum drapiert. Der große Rest wird im Nebenzimmer in einem Glasschrank aufbewahrt. Und wo steht die Lieblingspuppe? Helga überlegt nicht lange: „Es gibt keine. Ich habe alle gleich gern.“
Den Körper jeder einzelnen Puppe zeichnet die Puppenmacherin nach Augenmaß und Gefühl auf einen ungefähr zehn Zentimeter breiten weißen Flanellstoff. Den Bleistiftstrichen entlang rattert dann die alte Singer-Nähmaschine. Das ist der einzige Arbeitsschritt, den Helga nicht mit der Hand ausführt. Alles andere geschieht mit Nadel und Faden oder Pinsel und Farben. Am zeitaufwendigsten ist das Umdrehen des Körpers, bevor dieser mit Draht und Watte Haltung bekommt. Erst danach beginnt für Helga der spannende Teil: Der Kopf wird modelliert, mit Flanell überzogen, erste Gesichtszüge heraus genäht und gestärkt. „Die Gesichter sind am wichtigsten, das andere ist nur Beiwerk“, sagt sie.
Wobei die Haare nicht außer Acht zu lassen sind. Diese bestehen aus Hanf und werden individuell eingefärbt. Beim Anbringen der Haare wird der Puppenmacherin immer wieder bewusst, welchen Stellenwert diese haben: „Wenn die Haare drauf sind, muss ich beim Gesicht noch viel verändern, bis beides harmoniert. Mit einer neuen Frisur wirkt das Gesicht gleich ganz anders.“ Die passenden Materialien zu finden sei knifflig. Hanf, Stärke oder Flanell sind aus den Bastelgeschäften so gut wie verschwunden. „Muss ich halt mehr improvisieren“, zuckt die Puppenmacherin mit den Schultern. Ans Aufhören denkt sie noch lange nicht, zu gerne arbeitet sie an den Puppen – selbst wenn es sechs Stunden dauert, bis eine fertig ist.
Das Leben in Gesichtern sehen
Das Modellieren der Gesichter macht ihr am meisten Spaß. Dafür greift sie Gesichtszüge von Bekannten, Freunden oder Prominenten aus der Zeitung auf. Auf Wunsch entstehen Porträtpuppen nach einer bestimmten Vorlage, wie einem Foto. Besonders zu runden Geburtstagen sind solche Porträtpuppen ein beliebtes Geschenk. Derzeit vervollständigt sie eine Puppe für einen Kabarettisten und legt ein paar Bilder von ihm auf den Tisch: „Darauf ist er zwar gut zu sehen, schaut aber zu ernst. Ich brauche von ihm einen lustigen Gesichtsausdruck“, sagt Helga bestimmt. Die Menschen wollen keine ernsten Gesichter mehr. Porträtpuppen, Engeln oder Blumenkinder – alle sollen nur freundlich drein schauen. Doch für Helga zählt mehr die Ausdrucksstärke. Sie sucht nach der Einmaligkeit. Nach dem, was die Menschen unterscheidet. Früher ist sie oft durch die Gegend gelaufen und hat Menschen, die ihr auf der Straße begegnet sind, angestarrt. „Diese Gesichter haben mich angesprochen, weil man in ihnen das Leben sah“, erklärt die Puppenmacherin. Deshalb hat sie nach den ersten Puppenversuchen gleich ein großes Projekt begonnen: den Hüttenberger Reiftanz.
Ich wollte die Gesichter der Bergleute festhalten, weil es diese fast gar nicht mehr gibt. Heute sind alle schön und makellos, wie die Häuser.
Durch einen Bekannten ist der Reiftanz dargestellt mit Puppen nach Hüttenberg gekommen, wo die Idee eines eigenen kleinen Museums entstand. Dort lernte Helga die Dichterin Dolores Vieser kennen. Viesers humorvolle Geschichten über das bäuerliche Leben gefielen Helga auf Anhieb: Ratschweibeln, Zwiderlinge, klunzate Alte, stolze Bäuerinnen oder lachende Kinder – beim Lesen der Geschichten sah sie die Figuren mit all ihren Stärken und Schwächen dreidimensional vor Augen. Vier Jahre lang, den ganzen Tag, hat Helga an den Puppen gearbeitet. Die Geschichte von Hüttenberg und die Geschichten von Vieser detailgetreu nachgestellt, inklusive Accessoires, Möbel, Kapelle, Altar und Hintergründen. Helga wollte damit anderen eine Freude machen, alte Traditionen und das ländliche Dasein für die Jungen einfangen. Gerne hätte sie auch andere Kärntner Bräuche aus verschiedenen Regionen mit all den bunten Trachten als Puppen wieder erweckt. „Doch wenn es keinen Platz zum Aufstellen oder für Wertschätzung gibt, fange ich gar nicht erst an“, sagt Helga. Lieber widmet sie ihre Zeit den Engeln und Blumenkindern.
Jede Puppe ist anders
Im Laufe der Jahre hat sie unzählige Puppen gefertigt. Allein für das Museum in Hüttenberg waren es rund tausend Stück. Langweilig wurde ihr nie. Schließlich sieht jede Puppe anders aus. „Nur einmal musste ich Zwillinge machen, das war vielleicht schwierig“, verrät Helga. Die Augen müssen gleich, die Farbe im Gesicht stimmig und der Mund darf auf keinen Fall schief sein – für die Puppenmacherin muss bei einer Puppe alles zusammenpassen.
Bei „Tschibi“ war das vor vielen Jahren nicht der Fall. Das kleine Puppenmädchen hat sie für eine Kundin gefertigt. Diese wollte nach einiger Zeit für ihr Puppenmädchen einen Buben und brachte Tschibi zurück zu ihrer Puppenmutter. Nachdem der Puppenbub fertig war, knöpfte sich Helga noch einmal Tschibi vor. Für sie war der Kopf nicht gut genug. Kurzerhand trennte sie ihn ab und gab der Puppe ein hübscheres Gesicht. Die Kundin war außer sich: „Eine Frechheit“, schrie sie, „das ist nicht mehr meine Tschibi!“. Die Puppenmacherin war vollkommen aufgelöst und suchte verzweifelt nach dem ursprünglichen Puppenkopf. „Gott sei Dank konnte ich ihn finden und wieder annähen.“ Die Kundin war selig. Helga auch. Jetzt weiß sie, wie stark die Bindung zu Puppen sein kann und es nicht um Vollkommenheit geht. Die Püppchen haben eigene Persönlichkeiten, mit Ecken und Kanten – und werden mitunter zu Familienmitgliedern.
Heute trennt Helga keine Puppenköpfe mehr ab. „Ich habe mich weiterentwickelt“, schmunzelt sie. Aber es passiert, dass ein Hund den Puppenkopf frisst oder Mäuse die Zehen anknabbern. „Kein Problem lässt sich wieder richten“, beruhigt die Puppenmutter. Dem Staub rückt sie mit der Zahnbürste zu Leibe und frischt das Gesicht mit einer neuen Bemalung auf.
Kleinigkeiten machen einzigartig
Genauso wie auf ihre Puppen schaut Helga auf sich: Als Ausgleich zum langen Sitzen beim Puppenmachen geht sie mit ihrem Mann Peter gerne in die Kärntner Berge wandern. Dabei erspäht sie noch manchmal ein interessantes Gesicht. Ein Gesicht geprägt von Wind und Wetter, harter Arbeit und herzhaftem Lachen. Dann bleibt sie stehen und merkt sich die Grübchen und Falten, die lustige und traurige Geschichten aus dem Leben erzählen. Es sind halt die kleinen Besonderheiten, die einen Menschen – und manchmal eine Puppe – ausmachen.
Infos: Helga Riedel: + 43/463/511 088, Koschatstraße 5/III, Klagenfurt
Wissenswertes über den Hüttenberger Reiftanz
Der Hüttenberger Reiftanz zählt zu den wenigen vollständig überlieferten Männerkettentänzen in Europa und wurde 1608 erstmals urkundlich erwähnt. Heute wird er von den Hüttenbergern alle drei Jahre am ersten Sonntag nach Pfingsten aufgeführt. Hauptfiguren sind 24 Tänzer, der lustige „Hans Obermoar“ und der „Schwoafträger“, die Reiftanzbraut und der Bergkommissär, der Fähnrich und die Bergmusik. Das dreiteilige Spektakel dauert rund zwei Stunden. 108mal erklingt die Reiftanz-Melodie zu den Figuren, dazu gibt es verschiedene Späße und zum Abschluss das „Pritschen“, bei dem Ehrengäste mit einer Pritsche (Schlagstock) drei Schläge bekommen, was Glück und Gesundheit für die nächsten drei Jahre bringen soll.
Ein selbst geschriebenes Gedicht von Helga Riedel über ihre Arbeit an den Puppen:
War ich mal nicht frohen Mutes,
schubst mich ein Lauser: „Sei nicht fad,
hast dann ka Diandle heut parat?“
Ein anderer wieder lacht mich aus:
„Was Weiber leiden, so a Graus.“
Da greif ich halt zu Zwirn und Nadel
und näh dem Buabn schnell a Madl.
Dass es die beiden nicht arg treiben,
muss ich den Aufpasser beleiben,
der fordert wieder Trotz und Hohn
in Form von einer Juxperson.
Dies lässt sich ewig weiterspinngen,
bis ich bin im Geschehen drinnen.
Und um mich tuschelns, kicherns, lachen,
da lach ich mit, was sollt ich machen?
So war es auch ein heitres Werken,
die Freude konnt mich stets bestärken.
Belebte ich vergangne Zeiten
mit seinen Sonn- und Schattenseiten,
beschenkten sie uns dennoch reich,
des Menschen Herz bleibt immer gleich.
So hoff ich, wird ein Funke springen,
und dem Betrachter Freude bringen,
wenns ihm ein Schmunzeln nur abringt,
das in den Alltag weiterklingt,
so wäre mein Erfolg vollkommen.
Foto: Matthias Eichinger
Der Beitrag entstand im Auftrag vom Printmagazin Servus.
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