Ein etwas anderer Reisebericht über die Geisterstadt Calico im Süden Kaliforniens: Bla bla bla. Ich habe schon immer viel geschnattert. Bei jeder Gelegenheit. Egal ob mit Menschen, Tieren oder mir selbst. Mein Maul konnte ich nie halten. Bis mein Gequatsche drei Menschen tötete. Seit dem bin ich still. Ich sage nichts. Gar nichts. Nie wieder.
Schweigen ist Gold in der Geisterstadt Calico
Irgendwo auf den Weg zur Geisterstadt Calico. „Den“, sage ich und deute auf den wuchtigen Geländewagen. „Sind sie sicher?“ fragt der Autoverkäufer und mustert mich noch einmal von oben bis unten. „Klar“, schmettere ich scharf entgegen. Ich reiße ihm den Schlüssel aus der Hand und gehe selbstbewusst zu meinem neuen Gebrauchten. Schwungvoll öffne ich die Tür. Huch, ist der hoch. Ungeschickt hieve ich meinen Körper auf den alten stinkigen Ledersitz. Zitternd versuche ich zu starten. Einmal. Zweimal. „Scheiße, hoffentlich kommt der schleimige Typ nicht“, und ich drehe zum dritten Mal den Schlüssel. „Super, Baby geht ja.“ Erleichtert trete ich aufs Gas, um gleich wieder erschrocken zu bremsen – und dann tuckere im gemächlichen Tempo zur Hauptstraße. Wir werden uns schon aneinandergewöhnen. Schließlich haben wir eine lange Fahrt vor uns.
Jetzt geht es ab ins Nirgends, in die Morjave-Wüste.
Der strahlend blaue Himmel täuscht nicht. Mitten im Feber hat es 25 Grad – im Schatten. Kein Lüftchen weit und breit. Mein T-Shirt klebt am Rücken. Der Fuß ist taub von der langen Fahrt. Endlich. Nach sechs Stunden die lang ersehnte Stimme: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“ Radikal bringe ich mein vierrädriges Gefährt vor dem Motel zum Stehen. Stehen geblieben ist auch die Zeit. Kein Starbucks, kein Handyempfang. Nur das Motel, Jenny Rose Diners und ich. Ein Fehler? Wäre Barstow, die Hauptstadt der Morjave Wüste, die bessere Wahl gewesen? Hm. Von hier sind es nur wenige Meilen bis in die Vergangenheit. Also, bleibe ich.
Calico?“ fragt Jenny Rose erstaunt und zieht dabei die Augenbrauen erschreckend hoch.
Schnell streicht Jenny ihre gestreifte Uniform zu Recht, überprüft die blonde Föhnfrisur aus den 1980zigern im Spiegel und beugt sich über den Tresen zu mir: „Oh, darling. Schon lange hat niemand mehr nach Calico gefragt. Sie ist eine Geisterstadt, liegt verlassen am Fuße der King Mountains. Wirklich schade“, seufzt sie und füllt mir die Tasse mit Kaffee zum vierten Mal auf.
„Damals, 1881, war Calico, die Stadt mitten in der Wüste, richtig reich. Mehr als 5000 Einwohner lebten dort und es gab über 20 Saloons. In den Minen wurden Gold, Silber und Borax abgebaut. Und genauso schnell wie die Stadt aufblühte ging sie unter als die Minen versiegten. Die Menschen hielt nichts mehr an diesem Ort. Die Hitze der Wüste im Sommer und die eisige Kälte der Berge im Winter vertrieb sie. Die Calicos waren rau wie die Landschaft. Aber weißt Du, ihre Herzen waren aus Sand geformt wie der Boden auf dem sie schritten. Die kleinste Erschütterung machte ihren Zusammenhalt zunichte. Die zarten Sandkörner wurden vom Wind in die Ferne getragen“, erzählt Jenny. Als sie fertig ist, mache ich mich auf dem Weg.
Der letzte Abschnitt der Straße ist unbepflastert. Ein Schranken. In einem kleinen Häuschen sitzt die stämmige Rangerin. „Sechs Dollar, dann können Sie mit dem Auto weiterfahren, für 25 Dollar können Sie eine Nacht campen.“ Ich reiche ihr die Geldscheine und frage, ob es hier Schlangen gibt. Ihr Gesicht hellt sich auf. „Ja, natürlich. Aber es ist zu kalt. Sie kommen nicht aus ihrem Versteck. Aufpassen muss man nur beim Wegrand und in dunklen Ecken. Die eine oder andere Tarantel könnte bei der Mittagssonne schon ganz fit sein“, antwortet sie und zeigt mir wie groß die Viecher werden können.
Nach ein paar Minuten Autofahrt halte ich auf dem Touristenparkplatz. Ausgerüstet mit Windjacke, Schal und Tasche gehe ich die Hauptstraße von Calico entlang. In den 1950ziger Jahren wurde ein kleiner Teil der Stadt restauriert. Ab und zu kommen einige Gäste und besichtigen das Freilichtmuseum. Es sieht nicht ganz so aus wie einst. Doch ich kenne die Stadt. Hanks Hotel, Lil´s Saloon, die Bank und die Kirche. Ja, dort muss ich hin. Fernab von den ausgetretenen Pfaden finde ich meinen Weg. Mir ist schwindelig. Plötzlich bin ich in einer anderen Zeit.
Lil´s Töchter tragen wieder ihre weiten Röcke. Mit einem schwarzen Band betonen sie die Taille. Die Bluse sitzt perfekt, glatt gebügelt und aus feinster Baumwolle. Der Hut ist auf die übrige Kleidung farblich abgestimmt, das Haar fein säuberlich hoch gesteckt. Sie sehen elegant aus, tragen nur die neuesten Modelle. Sie können es sich leisten. Ich blicke auf mich. Mein Kleid ist alles andere als nobel. Die weiße Schürze ist schmutzig, das blaue Kleid darunter verblasst, die Schuhe löchrig. Nicht mehr lange und auch ich habe einen Sonnenschirm aus Spitze.
Hey Kleine aus dem Weg“, schreien mich die fremden Männer an, während sie in den Saloon stürmen.
Einer dreht sich um und drückt mir etwas in die Hand: „Kauf Dir was.“ „Danke Sir, ich brauche keine Almosen“, antworte ich keck. „Wir sind bald reich. Mein Dad hat einen riesigen Goldklumpen gefunden. Er wird ihn morgen zur Bank bringen“, rede ich weiter. „Was Du nicht sagst. Und wo wohnst Du Kleine?“ Geschwätzig wie ich war, erkläre ich sofort den Weg zu unserer kleinen Farm. Sie liegt abseits von Calico. Zu Fuß eine gute Stunde. Auf einer Anhöhe hinter den Hügeln. Das kleine Holzhaus sowie den Stall mit Kühen und Ziegen sieht man nicht gleich. Wir leben ziemlich versteckt.
Aus dem Saloon grölen besoffene Männerstimmen, Musik und kreischendes Weiberlachen. Der Mann schaut auf, tätschelt mir den Kopf und folgt seinen Freunden. Ich bleibe eine Weile stehen, bevor ich mich auf dem Heimweg mache. Das dauert erfahrungsgemäß ziemlich lange. Vor allem das erste Stück durch die Stadt. Unterwegs spreche ich mit vielen. Jedem erzähle ich von Daddys großem Fund, obwohl ich es eigentlich nicht darf. Ich konnte noch nie etwas für mich behalten. Nach all den Jahren hatte Dad Glück. Er wusste es schon immer. Hier, wo nicht alle danach suchen und niemand etwas vermutet, gab es Gold.
In jener Nacht versteckten wir den Klumpen. Abseits der Farm hatte Dad für uns einen kleinen Verschlag in den Felsen gebaut. Zuerst glaubten wir, es wird unser neues Versteck, unsere geheime Spielstelle. Dann wurde es eine Lagerstätte für die Vorräte. Hin und wieder brachten wir auch die Ziegen her. Während sie die wenigen Grasbüschel fraßen, setzten wir uns ins kühle Innere. Ich sah nicht, wo Dad das Gold versteckte, aber es war da.
Heute bin ich mit den Ziegen alleine. Es machte mir nichts aus, nicht mehr. Ich bin voller Vorfreude. Nur noch ein paar Stunden, dann bekomme ich eine Puppe und neue Kleider. Wir würden ein Haus in der Stadt kaufen und mussten nicht mehr auf der Pritsche unter dem Dachbalken schlafen. Etwas riss mich aus meinen Tagträumen. Ich ging links um den Felsen. Ich konnte zur Farm sehen. Sam half gerade Dad auf der Terrasse, als die Pferde auf die Anhöhe stürmten. Männer. Sie waren zu dritt. Einer hielt eine Fackel und ritt auf unsere Scheune zu. Während er das Holz in Brand setzte, sprangen die anderen vom Pferd und trieben Sam und Dad zu Mum ins Haus. Es ging so schnell. Ich war wie versteinert und vergaß aufs Atmen.
Mit rasendem Herzen kroch ich hinter den großen Felsen. Ich konnte nichts mehr sehen. Ich hörte nur: tiefe, fordernde Stimmen, das Knistern des Feuers, Sams weinen, Mums Schreie, einen Schuss, den nächsten und den nächsten. Jetzt war es gespenstisch ruhig. „Ich habe Dir gesagt, Kinder lügen. Es gibt nichts zu holen, Du Dummkopf“, schrie ein Mann und galoppierte davon. Ich blieb regungslos sitzen. War es meine Schuld? Hätte ich nichts gesagt! Erst am nächsten Tag stand ich auf. Aber ich ging nicht zurück nach Calico. Das konnte ich nicht ertragen. Ich kletterte über die Berge und wanderte Richtung Süden, nach Barstow. Meine Stimme ließ ich hier.
Fröstelnd lehnte ich an einen Felsen. Ich sah mich um. Wie bin ich hergekommen? Keine Ahnung. Ich war da und enthüllte unser größtes Familiengeheimnis. Sie brach das Schweigen und erzählte mir die Wahrheit. Es gab einen Grund für das alles. Ich musste noch etwas tun. Langsam streckte ich meine Hand aus. Ihr Ring blitzte in der Sonne. Ich trug ihn immer. Er hatte drei schlichte Einkerbungen, die in der Mitte zu einem blutroten Rubin zusammen liefen. Manchmal tat er mir weh, weil sich die kleine Spitze des Rubins auf der Rückseite in meine Haut bohrte. Jetzt sitzt er locker am Finger, kaum spürbar.
Vorsichtig öffne ich die Tür des Verschlages. Knarrend geht sie auf. Völlig verrückt. Ich jage alten Geistern nach und trete ein. Es ist klein, eng und dunkel. Ich fürchte mich vor den Spinnweben und bewege mich trotzdem zur Holzkiste im hintersten Winkel. Neugierde packt mich. Die Kiste ist sperrig, überraschend gut erhalten und Gott sei Dank unverschlossen. Ich fühle den vergilbten Stoff. War da noch etwas? Der Strahl der Taschenlampe leuchtet auf altes Leder. Mein Herz bleibt stehen. Das glaubt mir niemand! Tatsächlich. Das Gold ist noch da. Ich konnte nicht mehr denken. Es fehlten mir die Worte. Ich schwieg. Für immer.
Fakten über die Geisterstadt Calico in Kalifornien
Calico Ghost Town ist eine typisch amerikanische Geisterstadt im Süden von Kalifornien und der ideale Ort für eine Rast auf der Fahrt von Los Angeles nach Las Vegas. Bereits von weitem erkennt man auf der Interstate 15 den Schriftzug „Calico“ in den Bergen. Die Stadt wurde 1881 gegründet und erlebte während der Zeit des Silberbergbaus ihre Hochblüte. In mehr als 500 Minen wurden nach den Bodenschätzen gegraben – bis die Stadt gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgegeben wurde. Viele Gebäude der Stadt wurden renoviert und nachgebaut, sie dienen heute als Museum. Abenteuerlich ist ein Spaziergang rund um die Stadt, wo viele Minen entdeckt werden können. Aber Vorsicht vor Taranteln und Schlangen! Erfrischend sind die kleinen Köstlichkeiten im Restaurant, bevor die Reise weitergeht. Wer noch ein Weilchen in der geheimnisvollen Gegend bleiben möchte, kann am Fuße der Geisterstadt auf einem Campingplatz übernachten.
Weitere Infos: www.calicotown.com
Text & Fotos: Anita Arneitz
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